Es ist schwierig, neutral über den Kleinbürger zu sprechen. Alltagssprachlich gilt er wahlweise als konservativ, borniert, bieder, kleinkariert, engstirnig, kleingeistig, provinziell, einfältig, verklemmt. Sein Name taugt in verschiedenen Kontexten geradezu als Schimpfwort. Der Spiesser ist ihm eng verwandt. Diese pejorativen Assoziationen haben die akademische Soziologie im Sinne der Werturteilsfreiheit veranlasst, den ‚Kleinbürger‘ weitestgehend zu ersetzen durch die unverdächtige ‚Mittelschicht‘. Die Sozialstrukturanalyse kann damit quantifizierbare Gesellschaftsschichten erfassen, etwa anhand von Einkommens- und Vermögensdifferenzen.
Allerdings geraten so die qualitativen Eigenschaften des Kleinbürgers als charakteristische Sozialfigur moderner Gesellschaften aus dem Blick. Jede unvoreingenommene Betrachtung steht damit vor einer doppelten Schwierigkeit: Gegenüber der Alltagssprache ist die Vorstellung vom engstirnigen Kleinbürger normativ zu entschlacken. Gegenüber der Wissenschaft aber muss das Phänomen ‚Kleinbürger‘ sichtbar bleiben. Dessen negative Eigenschaften sind als solche anzuerkennen und ernst zu nehmen. Zugleich dürfen Klischees aber nicht wissenschaftlich re-produziert werden.
Im Folgenden soll holzschnittartig nachgezeichnet werden, wie die Gesellschaftstheorie des 20. Jahrhunderts den Kleinbürger systematisch der Hochstapelei verdächtigt hat. Sigmund Freud psycho-analysiert den Charakter derer, die besser sein wollen als sie tatsächlich sind. Das führe fast zwangsläufig in die Neurose, die wiederum auf einem überzogenen und schlecht organisierten Triebverzicht beruht. Diese Lustfeindlichkeit ist Ausdruck einer rigiden Selbstdisziplinierung, die Max Weber religionshistorisch auf die puritanische Askese der protestantischen Ethik zurückgeführt hat. Theodor W. Adorno fokussiert weniger auf den Genussverzicht als auf die Bildung. Er identifiziert die Halbbildung als wesentliches Merkmal des Kleinbürgers, der zwar viel weiss, und damit auch gerne angibt, aber nichts wirklich versteht. Diese höhere Dummheit (Robert Musil) aber ist nach Pierre Bourdieu keine individuelle Eigenschaft, sondern das logische Resultat aus der prekären Position des Kleinbürgers innerhalb des gesellschaftlichen Machtgefüges. Dadurch wird die Hochstapelei zur geradezu idealtypischen Praxis des Kleinbürgers.
Die Hochstapelei wird zur geradezu idealtypischen Praxis des Kleinbürgers
Der Habitus des Kleinbürgers
Die charakteristische Eigenschaft des Kleinbürgers besteht laut Bourdieu in der Prätention, der „Bereitschaft zum Bluff oder zum Usurpieren sozialer Identität im Versuch, das Sein durch den Schein zu überholen“ (Bourdieu 1982). Sie bezeichnet den verbissenen Willen, mehr zu sein als man tatsächlich ist, oder zumindest so zu erscheinen, im Willen zum sozialen Aufstieg. Jeder Habitus, auch der des Kleinbürgers, produziert eine ihm eigene Liebe zum Schicksal (amor fati). Sie führt dazu, dass die Menschen subjektiv das wollen, wozu sie objektiv verpflichtet sind, was also gesellschaftlich vorgegeben ist. Der Kleinbürger ist strukturell auf den Aufstieg verpflichtet, Stillstand bedeutet für ihn notwendigerweise Abstieg.
Im Gegensatz dazu hat das etablierte Grossbürgertum diesen Aufstiegswillen nicht nötig und die ganz unten haben gar keine Ambitionen. Des Kleinbürgers wichtigste Strategie besteht darin, so zu tun als wäre der Aufstieg bereits erfolgt, als gehöre er bereits auf die besseren Plätze der Gesellschaft. Das ist riskant, der Schwindel kann jederzeit auffliegen. Damit das nicht geschieht, muss der Kleinbürger sein Verhalten und die Reaktionen der anderen darauf stets genau beobachten. Aber obwohl er sich „fortwährend überwacht, sich kontrolliert und korrigiert“, will es ihm bei aller Anstrengung nicht gelingen, den eigenen Habitus abzulegen, weshalb er in der beständigen Angst lebt, entlarvt zu werden. In dieser Angst gründet die angestrengte Verkrampfung und nervöse Ängstlichkeit, die ihn zur – gegebenenfalls durchaus aggressiven – Pedanterie treibt. Er versucht zwar fleißig, seinen Mangel an kulturellem Kapital autodidaktisch wettzumachen und verfällt dadurch dem Streberhaften und Überkorrekten. Das gilt insbesondere für sein moralisches „Bekenntnis […] zu Rigorismus, sein Loblied auf Sauberkeit, Mäßigung und Sorgfalt“. Aber genau die Eigenschaften, von denen er sich den Aufstieg verspricht, verunmöglichen ihm eben diesen. Bourdieu, selbst ein kleinbürgerlicher Aufsteiger, beschreibt die Charakterzüge dieser tragischen Figur treffend:
„In ihrer ganzen Strenge hat sie [die Moral des Kleinbürgers, RS] etwas Enges und Forciertes, Verkrampftes und Reizbares, Engherziges und Steifes […]. Kleine Sorgen, kleine Nöte – der Kleinbürger ist ein Bürger, der auf kleinem Fuße lebt. Seine ganze Erscheinung […] ist die eines Menschen, der sich klein machen muss, um durch die engen Pforten zu passen, die zur Bourgeoise führt: strikt und nüchtern, diskret und akkurat, fehlt ihm in seiner Kleidung und seiner Sprache – diese aus übertriebener Wachsamkeit und Vorsicht überkorrekte Sprache! –, in seinen Gesten wie in seiner ganzen Haltung ein wenig Statur, Freimut, Großzügigkeit und Persönlichkeit.“ (Bourdieu 1982, 531)
Sein verzweifelter Versuch, zu kommunizieren, dass er auch zur gehobenen Sphäre der Gesellschaft gehört, verhindert die Zugehörigkeit des Kleinbürgers zu seiner erwünschten Gesellschaftsschicht. Nur wer über Status tatsächlich verfügt, kann es sich leisten, diesen nicht extra zu signalisieren. Nonchalance ist also das Indiz für echte Privilegiertheit. Dagegen ist die Grundlage des prätentiösen impression management (Goffman 1976) das Stückchen Wissen, das sich der Kleinbürger angelesen – neben moralischer Makellosigkeit, pingeliger Korrektheit und verstockter Seriosität. Weil er immer etwas zu wenig ist, ist der Kleinbürger immer etwas zu viel. Diese Kompensation mündet in Übertreibung: er ist zu genau, zu korrekt, zu seriös. Diese ‚Tugenden‘ ermöglichen ihm die Prätention überhaupt erst. Sie sind keineswegs den einzelnen Menschen zuzuschreiben, schon gar nicht als individuelle Defizite. Sie resultieren laut Bourdieu mit einer fatalen Notwendigkeit aus der prekären Position im sozialen Raum.
Die Moral des Kleinbürgers
Hier zeigen sich interessante Ähnlichkeiten zu Max Webers Beobachtungen der protestantischen Ethik. Weber findet die „genuinsten Anhänger puritanischen Geistes“ in den „im Aufsteigen begriffenen Schichten der Kleinbürger“. Sie gelten ihm als typische Träger kapitalistischer Ethik und calvinistischen Kirchentums (Weber 1920). Ihr Ethos verpflichtet sie auf durchgehend methodische Beherrschung der eigenen Lebensführung. Diese Askese wendet sich mit voller Gewalt vor allem gegen eins: „das unbefangene Genießen des Daseins und dessen, was es an Freuden zu bieten hat“. Es ergibt sich dadurch skizzenhaft folgende Charakteristik: Um überhaupt Chancen auf gesellschaftlichen Aufstieg zu haben, muss der Kleinbürger sich prätentiös verhalten. Er muss so tun, als wäre dieser Aufstieg bereits erfolgt, als wäre er selbst grösser, höher und mehr als er eigentlich ist – mit einem Wort: er muss hochstapeln. Damit dieser notwendige Betrug nicht auffliegt, muss er sich permanent selbst überwachen. Diese Fähigkeit zur Selbstkontrolle wiederum gründet in der ethisch motivierten Einübung einer strikt methodischen Lebensführung. Die Verpflichtung zu dieser hat ihre religiösen Grundlagen in der innerweltlichen Askese der protestantischen Ethik.
Die Triebe des Kleinbürgers
Was aber bedeutet diese Disziplin-Ethik für den einzelnen zur Hochstapelei gezwungenen Spiesser? Sigmund Freud hat die dunklen Seiten dieser Verpflichtung zur Selbstkontrolle theoretisch erfasst. Eine Gefahr der übertriebenen Selbstbeherrschung und des damit verbundenen Triebverzichts liegt, wenn dieser nicht recht gelingt, in der Begünstigung neurotischer Verhaltensweisen. Prätention und Hochstapelei sind damit auf Engste verbunden: „alle, die edler sein wollen, als ihre Konstitution es ihnen gestattet, verfallen der Neurose“ (Freud 1908). Das liegt auch daran, dass eben diesem strebsamen Kleinbürger jene Mittel zur Sublimierung fehlen, die es dem Grossbürger erlauben, die primitiven Triebregungen in eine gesellschaftlich anerkannte und sogar hoch geschätzte Richtung zu lenken. Freud nennt exemplarisch etwa „die Freude des Künstlers am Schaffen, an der Verkörperung seiner Phantasiegebilde, die des Forschers an der Lösung von Problemen und am Erkennen der Wahrheit“ (Freud 1930). Die musischen Talente für die höheren Formen sublimer Triebbefriedigung sind indessen höchst ungleich verteilt und dem Kleinbürger nicht leicht zugänglich. Was ihm bleibt, sind meist nur Verzicht, Entsagung und Verdrängung, allenfalls die „Möglichkeit, ein starkes Ausmaß libidinöser Komponenten, narzisstische, aggressive und selbst erotische, auf die Berufsarbeit […] zu verschieben“. Damit gelangt man, auf gänzlich anderem Wege, wieder zu Webers Arbeitsethos.
Ständig läuft er Gefahr, als der einfältige Philister erkannt zu werden, der er seiner Herkunft nach eigentlich ist.
Also zeigt sich der Habitus des Kleinbürgers nicht nur in seinem Verhältnis zu seinen Trieben, sondern auch zu den sublimierten Kultur- und Bildungsleistungen. Nicht etwa ist der Kleinbürger einfach ungebildet, im Gegenteil. Er nimmt Bildung sogar ausgesprochen ernst, wiederum: zu ernst. Kann sich der Grossbürger aufgrund seiner Herkunft unabhängige Urteile und ein durchaus spielerisches Verhältnis zum Bildungsspiel leisten, macht der autoritätsgebundene Kleinbürger „aus der Bildung eine Frage von wahr und falsch, eine Frage auf Leben und Tod“ (Bourdieu 1982)
Die Bildung des Kleinbürgers
Deshalb neigt er zur aggressiven Besserwisserei. Er trumpft arrogant auf, wenn es ihm gelingt, eine Schubert-Sonate korrekt zu identifizieren, eine lateinische Phrase im richtigen Augenblick zu platzieren oder zumindest mit einem passenden Goethezitat protzen zu können. Aber gerade durch diese geschwollene Prahlerei setzt er sich auch wieder besonders stark der Gefahr aus, entlarvt zu werden. Natürlich unterlaufen auch Grossbürgern Fauxpas, allerdings – und das ist der entscheidende Unterschied – kann es ihnen egal sein. Sie haben das gut informierte, aber oberflächliche Bescheidwissen schlicht nicht nötig. Ihre tief inkorporierte Kultiviertheit erlaubt es ihnen, die offizielle Kultur nicht so ernst zu nehmen. Sie ist ihnen gegebenenfalls eine angenehme Bereicherung und eine Quelle müssiger Inspiration, ihre soziale Identität hängt aber nicht daran. Ganz anders wird dem Kleinbürger zugeschrieben, jeder Schnitzer im Bereich der Kultur könne für ihn das endgültige Verderben bedeuten. Die Wege nach oben sind für ihn, so will es die Theorie, voller Stolpersteine und die Falltür nach unten ist immer weit geöffnet. Ständig läuft er Gefahr, als der einfältige Philister erkannt zu werden, der er seiner Herkunft nach eigentlich ist.
„Die Wahlverwandtschaft von Halbbildung und Kleinbürgertum liegt auf der Hand„Theodor W. Adorno
Theodor W. Adorno hat dieses problematische Verhältnis zur Kultur auf den Begriff der Halbbildung gebracht: „Sie ist geistig prätentiös und barbarisch anti-intellektuell in eins. Die Wahlverwandtschaft von Halbbildung und Kleinbürgertum liegt auf der Hand“ (Adorno 1959)
Die schlichte Unbildung ist der gelungenen Bildung näher als beide der Halbbildung. Beide ermöglichen – in ganz anderer Art und Weise – einen zwanglosen und offenen Bezug zum jeweiligen Gegenstand des Interesses. Dagegen verschliesst sich die Halbbildung diesem und versucht stattdessen, ihn in die vorgefertigten Kategorien rigider Denkschemata einzuordnen. Sie kennt Bildung nur als identifizierendes Wissen und ist regelrecht besessen von der Logik der Subsumtion. Die einzelnen Elemente verschmelzen nicht zu einem irgendwie kohärenten Ganzen, was gelungene Bildung gerade beansprucht. In gewissem Sinn ist die kleinbürgerliche Halbbildung das Gegenteil von Wissen und – um hier in typisch kleinbürgerlich-halbgebildeter Manier ein treffendes Zitat anzubringen – „das, was übrig bleibt, wenn wir alles vergessen haben, was wir in der Schule gelernt haben“ (Heisenberg).
In illusionsloser Nüchternheit konstatiert Adorno 1959, dass die Halbbildung die gesamte Kultur erfasst habe und dadurch nachhaltig zerstören werde – offenbar ist der Kleinbürger trotz aller Stolpersteine auf dem Vormarsch. Sicherheitshalber verwahrt er sich explizit gegen jeden Elitismus: „Eitel aber wäre auch die Einbildung, irgend jemand – und damit meint man immer sich selber – wäre von der Tendenz zur sozialisierten Halbbildung ausgenommen“.
Die Kritik des Kleinbürgers (an der Kritik am Kleinbürger)
Wenn auch nicht alle Hochstapelei kleinbürgerlich ist und es natürlich auch genuin grossbürgerliche oder proletarische Hochstapler gibt, so ist umgekehrt der Kleinbürger aufgrund seiner Position in den gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen doch dazu besonders disponiert, als solcher verdächtigt zu werden. Dass damit kein Werturteil verbunden ist, sondern diese Praxis sowohl aus sozialstrukturellen als auch ideengeschichtlich-kulturellen Gründen erfolgt, dürfte der Leserin und dem Leser klar geworden sein.
Wäre abschliessend doch ein kritisches Urteil erlaubt, und zwar ein unumwunden negatives, träfe es die ausgesprochen bornierte und angstbesetzte, meist schlechterdings hochnäsige – paradoxerweise nicht selten selbst: kleinbürgerliche – Kritik am Kleinbürger. Da dem prätentiös-neurotisch-asketisch-halbgebildeten Autor dieses Artikels für schneidige Stellungnahmen indessen die grossbürgerliche Selbstsicherheit fehlt, wäre diese Kritik an der Kritik hier bloss ein weiterer, besonders peinlicher Beweis für die vermessene Hochstaplerei des Kleinbürgers. Er würde dann performativ bestätigen, was er sich diskusiv zu kritisieren anmasst. Es bleibt deshalb nur zu sagen: So sind wir halt.
Take it or leave it.
Literatur
Adorno, Theodor W.. 1972 [1959]. „Theorie der Halbbildung“. In: Theodor W. Adorno. Soziologische Schriften 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Zitate auf Seiten 118, 120).
Bourdieu, Pierre. 1982. Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Zitate auf Seiten: 394, 331, 382, 531, 518)
Freud, Sigmund. 2007 [1908]. „Die ‚kulturelle‘ Sexualmoral und die moderne Nervosität“. In: Sigmund Freud. Das Unbehagen in der Kultur. Und andere kulturtheoretische Schriften, Frankfurt am Main (Zitat auf Seite 120).
Freud, Sigmund. 2007 [1930]. „Das Unbehagen in der Kultur“ [1930]. In: Sigmund Freud. Das Unbehagen in der Kultur. Und andere kulturtheoretische Schriften, Frankfurt am Main (Zitate auf Seite 46).
Goffman, Erving. 1976. Wir alle spielen Theater: die Selbstdarstellung im Alltag. Übersetzt von Peter Weber-Schäfer. München: Piper. Erstmals erschienen als: Goffman, Erving. 1959. The Presentation of Self in Everyday Life. New York: Doubleday.
Weber, Max. 1988 [1920]. „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“. In: Max Weber. Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen: Mohr, UTB (Zitate auf Seiten 195, 183)
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Robert Schäfer
Robert Schäfer ist promovierter Soziologe, forscht und lehrt an der Universität Fribourg. Er kennt sich in der Kultursoziologie und Sozialtheorie genauso aus wie in qualitativen Methoden der empirischen Sozialforschung. In seiner Dissertation, 2015 bei transcript erschienen, analysiert Schäfer den Tourismus als gesellschaftliche Organisation von Außeralltäglichkeit.
Fraglos handelt es sich um eine gelungene und treffende Entlarvung des Kleinbürgers als getriebener Hochstapler. Allerdings müsste die Analyse zeitlich relativiert und begrenzt werden. Denn was der Text mit dem Begriff des Kleinbürgers m.E. nicht leistet, ist die qualitative Fundierung der quantitativ erfassten „Mittelschicht“ der heutigen Zeit. Vielmehr trifft die Analyse die kleinbürgerliche Mittelschicht der 1950er bis etwa Mitter der 1980er sehr treffend. Und sie bildet daher auf jeden Fall den Ausgangspunkt für das eingangs proklamierte Unterfangen einer qualitativen Analyse der heutigen Mittelschicht. Aber eben nur den jüngsten historichen Ausgangspunkt, nicht die Grundlage.
Eine solche qualitative Analyse der heutigen Mittelschicht muss m.E. in den Blick nehmen, dass die Nachfolgegenerationen der getriebenen Kleinbürger selbst zwei Dinge realisieren müssen. Erstens hat der Aufstiegsdrang der Eltern und Großeltern in den allermeisten Fällen eben nicht dazu geführt einen faktischen Aufstieg in das Großbürgertum oder sogar in die Élite zu erreichen. Zweitens hat die Individiualisierungsdynamik der Gesellschaft dazu geführt, dass der eine erstrebenswerte Weg gar nicht mehr sicher vorausgesetzt werden kann.
Sicher wird die heutige Mittelschicht durch den beschriebenen Typus weiterhin geprägt. Aber daneben treten differenziertere Typen von Mittelschichtlern, deren Motivation von Abgrenzung, Ironisierung, Modifikation und anderen Mechanismen in verschiedenen Abstufungen geprägt ist. Man denke an Extremformen wie den Aussteiger, den Asket (auch nicht-religiöse wie Veganer, Esoteriker, etc.), den (teilweisen) Leistungsverweigerer usw. usf.
Man müsste als für eine qualitative Fundierung der heutigen Mittelschicht unbedingt ein reflexives Moment des Kleinbürgers hinzunehmen, weil er ja zwangsläufig wird erkennen müssen, dass seine Eltern und Großeltern mit ihrem ergeizigen Betreiben nicht so richtig weit gekommen sind und dass eine einfach nur größere Anstrengung nicht zum Erfolg führt, sondern – wie Du es sehr treffend beschrieben hast – nur zur größtmöglichen Peinlichkeit. Dies ist dem heutigen Kleinbürger ganz gewisse bewusst, sodass sein Handeln schon von der leisesten Spur dieses Wissens geprägt sein wird. Es wird darauf ankommen, diese Verunsicherung analytisch zu entfalten, um dem heutigen Kleinbürger auf die Spur zu kommen.
Viele Grüße aus der Hansestadt in die Schweizer Berge,
Enno
Wissenschaftsforschender Kommentar: Genau das ist gegenwärtig alle naselang in der Wissenschaft zu sehen. Arbeiten das Geilste! Die Strukturbedingungen tun dazu ein Übriges. Der Forscher als Grossbürger, das war einmal – die verbissene Geisteskleinbürgertümelei hingegen ist keineswegs dasselbe wie Freuds besagte „Freude“, die wir heute wohl „intrisische Motivation“ oder „Flow“ nennen würden. Darüber wünschte ich mir mehr Diskussion.