Unser Zivi­li­sa­ti­ons­ver­ständ­nis mag vage sein. Prä­zi­se aber ist es im Umgang mit Kan­ni­ba­lis­mus. Der Kon­sum von Men­schen­fleisch ist das ulti­ma­ti­ve no go – die Gren­ze, die nie­mals über­schrit­ten wer­den darf. Wie faul die­se kul­tu­rel­le Selbst­ver­ge­wis­se­rung ist, dar­auf hat Clau­de Lévi-Strauss ver­schie­dent­lich hin­ge­wie­sen. Weit­aus anschau­li­cher ist die­se Ver­un­si­che­rung einer Figur gelun­gen, die seit den 1990er-Jah­ren Hoch­kul­tur und Anthro­po­pha­gie auf der Lein­wand lis­ten­reich kom­bi­niert: Han­ni­bal Lec­ter.

Expo­si­ti­on

Lévi-Strauss, Claude. 2002 (1964). Das Rohe und das Gekochte. Mythologica I. Frankfurt am Main.
Lévi-Strauss, Clau­de. 2000 (1964). Das Rohe und das Gekoch­te. Mytho­lo­gi­ca I. Frank­furt am Main.

Clau­de Lévi-Strauss trug in Das Rohe und das Gekoch­te (1964) die Erzäh­lun­gen amerikani­scher Stäm­me zusam­men und zer­leg­te sie in „Mythe­me“. Das sind Erzähl­ein­hei­ten, die in den Mythen ver­schie­de­ner Kul­tu­ren immer wie­der auf­tau­chen und die­se mit­ein­an­der ver­gleich­bar machen. Sie funk­tio­nie­ren wie Erzähl­bau­stei­ne, aus denen die grö­ße­ren Nar­ra­ti­ve zusam­men­ge­setzt sind. Die­se Mythe­me setz­te Lévi-Strauss ver­glei­chend und kom­po­si­to­risch ord­nend zu Kapi­teln zusam­men. Um sei­ne Metho­de zu beschrei­ben, benutz­te er Über­schrif­ten wie „Sona­te“, „Fuge“, „sin­fo­nia bre­ve“ oder „sin­fo­nia rusti­ca“, und stellt so sein eige­nes Schrei­ben als Setz­kas­ten für kom­ple­xe, qua­si-musi­ka­li­sche Kom­positionen vor.

Das Rohe und das Gekoch­te bezeich­net eines der wich­tigs­ten Op­po­si­tions­paare in den Erzäh­lun­gen süd­ame­ri­ka­ni­scher Urein­woh­ner. Zugleich cha­rak­te­ri­siert der Über­gang vom Rohen ins Gekoch­te auch den Vor­gang, den der Anthro­po­lo­ge selbst betreibt. Er zwingt die rohen Mythen in die gekoch­te Vari­an­te der wis­sen­schaft­li­chen Über­for­mung. Gezwun­gen ist die­se Mythe­n­ana­ly­se bei aller Fines­se inso­fern, als dass sie durch­weg geprägt ist von der har­ten Natur/­Kul­tur-Oppo­si­ti­on:

Es lässt sich auf die­se Wei­se nach­prü­fen, dass die -Mythen vom Ursprung des Feu­ers […] mit­tels eines dop­pel­ten Gegen­sat­zes vor­ge­hen: des Gegen­sat­zes zwi­schen roh und gekocht einer­seits, zwi­schen frisch und ver­fault ande­rer­seits. Die Ach­se, wel­che das Rohe und das Gekoch­te ver­eint, ist ein Cha­rak­te­ris­ti­kum der Kul­tur, die­je­ni­ge, wel­che das Rohe und das Ver­faul­te ver­bin­det, ein Cha­rak­te­ris­ti­kum der Natur, da das Kochen die kul­tu­rel­le Transfor­mation des Rohen voll­endet, so wie die Fäul­nis sei­ne natür­li­che Trans­for­ma­ti­on ist“ (Lévi-Strauss 2000: 191).

Die Über­füh­rung des Rohen in das Gekoch­te ist der Vor­gang der Kul­ti­vie­rung. Er bestimmt nicht nur, wie etwas zube­rei­tet, son­dern auch, was geges­sen wer­den darf. Der kul­ti­vier­te Fleisch­kon­sum hat sich von diver­sen ande­ren car­ni­vo­ren Ernäh­rungs­for­men abzugrenzen.

Nega­tiv und posi­tiv bezie­hen sich alle Mythen auf den Ursprung des Kochens der Nah­rung: Sie stel­len die­se Ernäh­rungs­wei­se ande­ren gegen­über: der der Fleisch­fres­ser, die rohes Fleisch ver­zeh­ren; der der Aas­fres­ser, die ver­wes­tes Fleisch kon­su­mie­ren. Aber – und dies ist ein drit­ter Unter­schied – die Mythen evo­zie­ren ver­schie­de­nen For­men des Kan­ni­ba­lis­mus: einen luf­ti­gen (die Uru­bus) und einen aqua­ti­schen (die Piran­has) […]; einen irdi­schen […], der aber bald ein natür­li­cher ist und sich auf das rohe Fleisch bezieht (fleisch­fres­sen­des Tier), bald ein über­na­tür­li­cher, der sich auf das gekoch­te Fleisch bezieht“ (Lévi-Strauss 2000: 368).

Die Erzäh­lun­gen der Köche über die nicht-kochen­den Wesen die­nen einer simp­len Ab­grenzungs­bewegung. Über sie bestim­men die Kul­ti­vier­ten ex nega­tivo das Eige­ne. Aus­ge­grenzt wer­den einer­seits die Kan­ni­ba­len, ande­rer­seits die Aas­fres­ser und die Raub­tie­re, die ver­wes­tes oder rohes Fleisch kon­su­mie­ren. Das Eige­ne ist bestimmt als Macht über das Feu­er, auf dem aus­schließ­lich das art­frem­de Fleisch gebra­ten wird.

Haupt­satz

Brü­chig wird Abgren­zung ange­sichts des kochen­den Kanni­balen. Denn die­ser steht quer zu den Gegen­sät­zen: Einer­seits bedient er sich des Feu­ers, ande­rer­seits aber ver­speist er nicht frem­des, son­dern art­ei­ge­nes Fleisch. Die Beherr­schung des Herd­feu­ers muss sich also mit dem Menschen­fleischkonsum arran­gie­ren. Damit wan­delt der kochen­de Kan­ni­ba­le zwi­schen den Kate­go­rien eigen und fremd. Die­se inter­me­diä­re Posi­ti­on, die­ses Oszil­lie­ren zwi­schen Gegen­sät­zen ist ein Wesens­zug, den Lévi-Strauss (1977) den soge­nann­ten tricks­tern zuschreibt – Figu­ren, die in den Mythen vie­ler Kul­tu­ren zu fin­den sind. Tricks­ter sind Zwi­schen­we­sen – zwi­schen Tier und Mensch oder zwi­schen Men­schen und Göt­tern –, die es beherr­schen, zwi­schen den mythe­mi­schen Gegen­sät­zen zu wan­deln und sie gleich­zei­tig in sich zu vereinen.

Indem der kochen­de Kanni­bale aber das fremd-eige­ne Fleisch in eine höhe­re, gekoch­te Form bringt, über­steigt er men­schen­ei­ge­ne Kul­ti­vie­rungs­vor­gän­ge: So wan­delt er zwi­schen mensch­li­chem Herd und gött­li­cher Spei­se. Er han­delt wie ein Über­mensch oder viel­leicht noch mehr als das: wie ein Halb­gott oder Dämon.

Sei­ten­satz

Auch in spä­te­ren Tex­ten gilt Lévi-Strauss Kan­ni­ba­lis­mus nicht als Dif­fe­renz­kri­te­ri­um, um die ver­meint­lich zivi­li­sier­te Gesell­schaft von den angeb­lich pri­mi­ti­ven Kul­tu­ren abzu­gren­zen. Im Essay Wir sind alle Kan­ni­ba­len (1993) behaup­tet er, die einst durch kan­ni­ba­li­sche Prak­ti­ken ver­brei­te­te Kuru-Krank­heit wie­der­ho­le sich in der Creutz­feld-Jakob-Krank­heit. Injek­tio­nen mit Hor­mo­nen, die mensch­li­chen Hypo­phy­sen ent­nom­men sind, oder die Ver­pflan­zung von Hirn-Mem­bra­nen hät­ten das Revi­val der Kan­ni­ba­len-Krank­heit aus­ge­löst. Der Zusam­men­hang zwi­schen Kan­ni­ba­lis­mus und Creutz­feld-Jakob ist bis heu­te nicht bewie­sen. Genau­so wenig veri­fi­ziert wer­den konn­te übri­gens die spä­te­re Ver­mu­tung, BSE löse die Krank­heit aus. Trotz­dem stellt der Anthro­po­lo­ge zu Recht die Fra­ge, war­um wir den Kan­ni­ba­lis­mus als das ‚Ande­re‘ unse­res Lebens­stils defi­nie­ren dür­fen. Schliess­lich inji­zie­ren wir the­ra­peu­tisch mensch­li­che Hor­mo­ne und neh­men mit Cremes, Stamm­zel­len und Xeno­trans­plan­ta­ti­on Men­schen zu uns.

<em>Sich das Fleisch eines anderen Menschen einverleiben.</em> Lévi-Strauss macht Kannibalismus und Organtransplantation vergleichbar.
Sich das Fleisch eines ande­ren Men­schen ein­ver­lei­ben. Lévi-Strauss macht Kan­ni­ba­lis­mus und Organ­trans­plan­ta­ti­on vergleichbar.

Durch­füh­rung

Lévi-Strauss schrieb sei­nen Kan­ni­ba­lis­mus-Essay 1993. Ich kann nicht umhin, mir vor­zu­stel­len, dass er dies nach einem Kino­be­such tat. Die Roman­ver­fil­mung The Silence of the Lambs hat­te 1992 die Big Five gewon­nen, die wich­tigs­ten Kate­go­rien der Oscar-Ver­lei­hung. Das ist bis heu­te kei­nem ande­ren Film danach gelun­gen. Das Aus­maß die­ser Ehrung erstaunt nicht zuletzt bei einem Film, der sich um einen Kan­ni­ba­len dreht: Han­ni­bal Lec­ter, Pres­se­na­me ‚Han­ni­bal the Can­ni­bal‘. Die­ser wur­de 1981 vom Thril­ler­au­tor Tho­mas Har­ris in sei­nem Roman Red Dra­gon erfun­den. Nach einer Ver­fil­mung die­ses Débuts durch Micha­el Mann (1988) wur­de Han­ni­bal Lec­ter in Silence of the Lambs erst­mals durch Antho­ny Hop­kins ver­kör­pert. Hop­kins Schau­spiel­stil prägt bis heu­te das Han­ni­bal-Bild. Aller­dings inkar­niert ihn mit Mads Mik­kel­sen in der 2015 zum Abschluss gekom­me­nen TV-Serie auch nicht gera­de ein zweit­rangiger Schauspieler.

Das Schweigen der Lämmer an der Oscarverleihung (Bild: John Barr/Liaison)
Das Schwei­gen der Läm­mer an der Oscar­ver­lei­hung (Bild: John Barr/​Liaison)

Die Hop­kins-Tri­lo­gie besteht – sor­tiert nach der Hand­lungs­chro­no­lo­gie – aus Red Dra­gon (Rat­ner 2002), Silence of the Lambs (Dem­me 1991) und Han­ni­bal (Scott 2001). Den vier­ten Teil Han­ni­bal Rising von 2007 neh­me ich aus mei­ner Ana­ly­se aus, da er in fast allen Punk­ten weder der Mach­art der ande­ren Fil­me noch dem Kon­zept der frü­he­ren Har­ris-Roma­ne entspricht.

Ers­tes Thema

In den ers­ten drei Fil­men wie auch in der TV-Serie (2013–2015) ist Han­ni­bal Lec­ter der Inbe­griff des Hoch­kulti­vierten: aka­de­mi­scher Titel, erfolg­rei­cher Psy­cho­lo­ge, distin­gu­ier­te Spra­che, geho­be­ner Kunst­ver­stand, Spon­sor der Phil­har­mo­ni­ker sei­ner Hei­mat­stadt Bal­ti­more und pas­sio­nier­ter Koch – von Men­schen­fleisch. Sein Kanniba­lismus fügt sich lücken­los in die sozia­le Distink­ti­on der Ober­schicht. Wenn Lec­ter am Anfang von Red Dra­gon einen min­der­be­gab­ten Flö­tis­ten an den Vor­stand der Phil­har­mo­ni­ker ver­füt­tert, har­mo­nie­ren sei­ne verschie­denen Pas­sio­nen bes­tens. Die Tisch­ge­sprä­che sind intel­lek­tu­ell und geprägt von der Erleich­terung, dass auf­grund des Ver­schwin­dens des Min­der­ta­len­tier­ten die musi­ka­li­sche Qua­li­tät steigt. Natür­lich lobt jeder die Zart­heit des Flei­sches: Lec­ters Wir­ken ist ein Zuge­winn für Kunst und fei­nen Geschmack in jeg­li­cher Hin­sicht. Der Sar­kas­mus trieft aus die­ser Sze­ne wie Bra­ten­fett, denn Lec­ter hält wie ein zwei­ter Til Eulen­spiegel, eben­falls ein Tricks­ter, der sozi­al-kan­ni­ba­lis­ti­schen Ober­schicht den Spie­gel vor.

In die­ser Ouver­tu­re des Films wer­den wie bei Lévi-Strauss die ver­schie­de­nen, teils kon­tra­punk­tisch ange­leg­ten Moti­ve des Mythos vor­ge­führt. Lec­ter selbst agiert als mythi­sche Figur. Er ist der geschichts­lo­se, oder viel­mehr: geschichts­rau­ben­de Frem­de, der aus dem Nichts in der High Socie­ty Bal­ti­mo­res auf­taucht. Dort über­führt er die mythi­sche Oppo­si­ti­on von Rohem und Gekoch­tem, von Frem­dem und Eige­nen, in die abso­lu­te Kulti­vie­rung des Gekoch­ten. Er allein, der Tricks­ter, ver­fügt über die Macht, das Eige­ne zum Frem­den zu machen: den Flö­tis­ten zu Filet. Er allein aber kann aus dem frem­den Eige­nen über das Kochen auch wie­der etwas Eige­nes machen: eine köst­li­che Fleisch­mahl­zeit, die sich die eige­ne Gesell­schaft dann lob­prei­send ein­ver­leibt. Nichts bleibt rohe Natur: Das Mord- geht als qua­si-reli­giö­ses Opfer auf in den Mägen und Sphä­ren der Hoch­kul­tur. Deren Deka­denz riecht so nicht nach Ver­we­sung, son­dern nach Sau­ce l’Hannibal.

Lec­ter ist also von Anfang an ein dia­bo­li­scher Halb­gott, der über die Teil­ha­be am gekoch­ten und gemein­sam geges­se­nen Selbst­op­fer ein gemein­schaft­li­ches Eige­nes stif­tet. Natür­lich wird den Zuschau­en­den deut­lich, dass die­ses Men­schen­fleisch die Nor­mal­men­sch­heit an ihre Dop­pel­mo­ral erinnert.

In der Fol­ge häu­fen sich Moti­ve, die für die halb­gött­li­che Tricks­ter­haf­tig­keit des Trieb­tä­ters spre­chen. Das ers­te ist das Motiv des Mario­net­ten-Spie­lers. In den hand­lungs­chro­no­lo­gisch ers­ten bei­den Tei­len, Red Dra­gon und Silence of the Lambs, sitzt Lec­ter fast das gesam­te Ge­schehen über hin­ter Git­tern, respek­ti­ve: hin­ter einer Glas­schei­be. Vor die­se trans­pa­ren­te und (mythe­mo­lo­gisch aus­ge­deu­tet:) tran­szen­den­te Gren­ze pil­gern die FBI-Agen­ten, um das kan­ni­ba­lis­ti­sche Ora­kel zu befra­gen. Wie Gläu­bi­ge fol­gen die Ermitt­ler sei­nen Hin­wei­sen − und wie Gläu­bi­ge wer­den sie von sei­ner unsicht­ba­ren Macht ver­folgt, falls sie gegen Gebo­te ver­sto­ßen. So schafft es Lec­ter in bei­den Fil­men, die FBI-Apo­sta­ten einer­seits zu len­ken, ande­rer­seits, bei Wider­stän­den gegen die­se Len­kung, ihnen den aktu­el­len Seri­en­mör­der ins Haus zu schi­cken. Letz­te­rer setzt Lec­ters Wil­len wie die irdi­sche Exe­ku­ti­ve eines gött­li­chen Wil­lens um. Lec­ter kann über sei­nen Hand­lan­ger jeder­zeit ins Leben der Ermitt­ler ein­grei­fen. Er bestraft sie zwar nicht mit dem Tod, ver­dammt sie jedoch zur gläu­bi­gen Para­noia. So ver­fügt er über die Macht, ohne Invol­vie­rung und ledig­lich über die Kon­trol­le der nach sei­nem Bild Gestal­te­ten die Geschi­cke der ihm unter­wor­fe­nen Welt zu bestimmen.

Blake, William. Ca. 1804. Der große Rote Drache und die Frau, mit der Sonne bekleidet (Aquarell).
Bla­ke, Wil­liam. 1804. Der gro­ße Rote Dra­che und die Frau, mit der Son­ne beklei­det (Aqua­rell).

Über­dies tre­ten die von Lec­ter ange­lei­te­ten Seri­en­mör­der in Funk­ti­ons­stel­len des christ­li­chen Mythos. Der Seri­en­kil­ler des ers­ten Teils bringt sich durch sei­ne Taten als apo­ka­lyp­ti­schen Dra­chen auf die Welt. Und Buf­fa­lo Bill in Silence of the Lambs schnei­dert sich aus sei­nen Opfern eine zwei­te Haut, in die ver­puppt er sich als Mensch neu schöp­fen und erlö­sen will.

Zwei­tes Thema

Doch wehe, wenn die­ser Halb­gott auf Erden wan­delt. In Han­ni­bal, dem hand­lungs­lo­gisch drit­ten Teil der Roman- wie Film­rei­he ist Lec­ter auf frei­em Fuß. Inzwi­schen ist er in Flo­renz, wo er das Mor­den unter­lässt und dar­an arbei­tet, ein aner­kann­ter floren­ti­ni­scher Intel­lek­tu­el­ler zu wer­den. Er akkul­tur­iert sich über sei­ne For­schung zu Dan­te, nota­be­ne dem Dich­ter von Him­mel, Pur­ga­to­ri­um und Höl­le. Sei­nen Trieb kom­pen­siert Lec­ter damit, sich mit dem Selbst­mör­der Pier del­le Vigne zu beschäf­ti­gen, des­sen Bestra­fung die Com­me­dia im 13. Infer­no-Gesang beschreibt. Lec­ter par­al­le­li­siert in sei­ner For­schung die­sen Sui­zid mit der Erhän­gung des Judas und über­dies der des Fran­ces­co de’ Paz­zi. Mit letz­te­rer nähert sich Lec­ters For­schung der blu­ti­gen flo­ren­ti­ni­schen Geschich­te: Nach einer miss­glück­ten Ver­schwö­rung gegen die Medi­ci 1478 wur­de Fran­ces­co durch einen Sturz aus den Fens­tern des Palaz­zo del­la Signo­ria erhängt.

Nun ist der Lec­ter in Vene­dig ver­fol­gen­de Ermitt­ler Inspec­tor Rinal­do Paz­zi aus­ge­rech­net ein Nach­fah­re Fran­ces­cos. Er bie­tet Lec­ter die Mög­lich­keit, wie­der in sei­ne eigent­liche Bestim­mung ein­zu­tre­ten: Lec­ter kopiert das Dan­te-Motiv mit der Erhän­gung des Judas und des Fran­ces­co de’ Paz­zi – und stürzt den Ermitt­ler gleich mit vom Bal­kon des Rat­hau­ses. Damit fal­len jedoch vier Erhän­gun­gen auf einer mythi­schen Funk­ti­ons­stel­le zusam­men, die (von ihrem Wesen her über­zeit­lich) sowohl am Ran­de des Pas­si­ons­ge­sche­hens, in der Com­me­dia, der flo­ren­ti­ni­schen Geschich­te als eben auch in der Gegen­wart der Film­hand­lung prä­sent wer­den kann.

Der kochen­de Kan­ni­ba­le ist in die­ser Sequenz nicht mehr ledig­lich ein gegen­wär­ti­ges Phä­no­men einer qua­si-kan­ni­ba­­lis­­ti­­schen Éli­te; Lec­ter ist hier ein akti­ver Mythen­ge­ne­ra­tor, der sich selbst tief aus der euro­päi­schen Geschich­te und Lite­ra­tur wie­der­ge­biert. Er ver­ge­gen­wär­tigt die Geschich­te (latent) als For­scher und (aktiv) in bra­chia­ler Tat. Damit wird der Kanniba­lis­mus als eine tief ver­wur­zel­te, mythi­sche Eigen­heit der soge­nann­ten zivi­li­sier­ten euro­päi­schen wie US-ame­ri­ka­ni­schen Kul­tur gezeich­net. Als deren sich selbst gebä­ren­der und sodann wie­der­ge­bo­re­ner Ver­tre­ter schrei­tet Lec­ter nun zur Tat.

Repri­se

Am deut­lichs­ten wird dies am Show­down und im Epi­log des Films. Die Prot­ago­nis­tin Agent Cla­ri­ce Star­ling erwacht aus einer Ohn­macht. Sie trägt ein Abend­kleid. Als sie sich in den Salon begibt, fin­det sie Lec­ter und ihren büro­kra­ti­schen Gegen­spie­ler, FBI-Agent Paul Krend­ler vor. Krend­ler hat­te zuvor ver­sucht, Star­ling zu sabo­tie­ren. Schließ­lich waren dem männ­lich-ratio­na­len Ermitt­ler ihre gläu­bi­ge Faszi­nation für Lec­ter eben­so ein Dorn im Auge wie ihre intui­ti­ven Ermitt­lungs­me­tho­den. Als Star­ling an Lec­ters Tafel tritt, stam­melt Krend­ler, das Haupt be­deckt von einer Base­ball­kap­pe, unkon­trol­lier­te Sät­ze. Lec­ter bit­tet Star­ling höf­lich, aber bestimmt, Platz zu neh­men. Er tritt hin­ter Krend­ler, ent­fernt des­sen Kap­pe und öff­net sei­ne Schä­del­de­cke ent­lang eines zuvor gezo­ge­nen Ein­schnitts. Unter Aus­füh­run­gen, wel­che Par­tien des Gehirns am ent­behr­lichs­ten sei­en, ent­nimmt er Krend­lers geöff­ne­tem Schä­del eini­ge Win­dun­gen und legt sie in eine erhit­ze Pfanne.

Mit der Schä­del­in­zi­si­on beim arche­ty­pi­schen FBI-Agen­ten Krend­ler (WASP, Büro­krat, Chau­vi­nist und vor allem: Ratio­na­list) greift Lec­ter sym­bo­lisch in das Selbst­ver­ständ­nis eines sich als auf­ge­klärt begrei­fen­den Patri­ar­chats ein, das meint, sowohl Mythos wie Kan­ni­ba­lis­mus hin­ter sich gelas­sen zu haben. Er kul­ti­viert deren rohes Feti­sch­or­gan, das Gehirn, und formt es zur gekoch­ten Spei­se für sich und sei­ne Gläu­bi­gen. Dass er Krend­ler selbst vom kul­ti­vier­ten Eigen­hirn zu essen gibt, ist Höhe­punkt die­ser per­versen Ritu­al­re­fle­xi­on, in der der mythisch agie­ren­de Tricks­ter die Ratio sich selbst ver­schlin­gen lässt.

Auf sym­bo­li­scher Ebe­ne ist die­se kan­ni­ba­lis­ti­sche Eucha­ris­tie nicht weit ent­fernt von Lévi-Strauss’ Metho­de: So wie der Anthro­po­lo­ge in den Fun­dus der Ein­ge­bo­re­nen­my­then griff, um sie im Stil der struk­tu­ra­lis­ti­schen Ratio­na­li­tät zur ›höhe­ren‹ Struk­tur zu for­men, han­delt auch Lec­ter als ein Struk­tur­ge­ber, der in die rohe Ratio des US-ame­ri­ka­ni­schen Ermittler­gehirns greift und sie zur höhe­ren Struk­tur der Göt­ter­nah­rung macht. Bei­den Grif­fen ist – jen­seits aller mora­li­schen Dif­fe­ren­zen – gemein, dass sie sich unter Ver­kul­tung des eige­nen kul­tu­rel­len Sta­tus zur Wand­lung der ande­ren, rohen Kul­tur beru­fen füh­len. Der gro­ße Gegen­satz ist die Lauf­rich­tung die­ser Koch­vor­gän­ge: Der eine greift in die Mythen ein, die er ratio­na­li­siert; der ande­re in die sym­bo­li­sier­te Ratio, die er sich – selbst mythi­sche Gestalt – einverleibt.

Coda

Bei­de, Anthro­po­lo­ge wie Kan­ni­ba­le, for­men damit die Zukunft: Einer­seits domi­niert das struk­tu­ra­lis­ti­sche Den­ken die wei­te­ren Jahr­zehn­te nach den Mytho­lo­gi­ca und scheint auch heu­te noch – vor allem was die Mythen­for­schung angeht – alles ande­re als über­wun­den. Ander­er­seits gelingt es Agent Star­ling, aus dem Ritu­al aus­zu­bre­chen und ein Ein­satz­team die Tafel stür­men zu las­sen. Die Lei­che der ermit­teln­den Ratio (Agent Krend­ler) ist zu die­sem Zeit­punkt frei­lich schon kalt und Lec­ter nicht mehr anwe­send. Im Epi­log des Films sieht man ihn in einem Flug­zeug. Statt eines Flug­zeug­mahls hat er sich fran­zö­si­sche Fein­kost ange­rich­tet und öff­net gera­de eine selbst mit­ge­brach­te Tup­per­ware-Scha­le. Als er sich aus der Scha­le klei­ne gewun­de­ne Fleisch­stü­cke nimmt, schaut ihn ein Kind vom Nach­bar­sitz bit­tend an und fragt, ob es pro­bie­ren dür­fe. Unter lehr­meisterlichem Lob, dass man stets Neu­es pro­bie­ren sol­le, gibt Lec­ter dem Kind von Krend­lers Hirn zu essen. Und dem Kind schmeckt es.

In der letz­ten Auf­nah­me umspielt Lec­ters Lip­pen ein Lächeln: Es ist Stolz des Über­ir­di­schen, der ihn lächeln lässt, weil er weiß: Den kochen­den Kan­ni­ba­len gehört die Zukunft, in Lec­ters Fall die Zukunft einer kan­ni­ba­lis­ti­schen Neu-Mythi­sie­rung der Welt. Denn hier wur­de Anfang des Jah­res 2001 – der im Febru­ar in den USA erschie­ne­ne Film war am 11. Sep­tem­ber welt­weit noch immer in eini­gen Kinos zu sehen – in einem Flug­zeug die west­li­che Ratio vertilgt.

Lite­ra­tur

Lévi-Strauss, Clau­de. 1977 (1955). „Die Struk­tur der Mythen“. In: Lévi-Strauss, Clau­de. Struk­tu­ra­le Anthro­po­lo­gie I. Frank­furt am Main.

Lévi-Strauss, Clau­de. 2000 (1964). Das Rohe und das Gekoch­te. Mytho­lo­gi­ca I. Frank­furt am Main.

Lévi-Strauss, Clau­de. 2017 (1993). „Wir sind alle Kan­ni­ba­len“. In: Lévi-Strauss, Clau­de. Wir sind alle Kan­ni­ba­len. Frank­furt am Main.

 

 

Bild­nach­weis

Das Titel­bild zeigt Antho­ny Hop­kins und Juli­an­ne Moo­re in einer Sze­ne aus Rid­ley Scotts Han­ni­bal. 2001 (Get­ty Images).

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Mat­thi­as Däumer

Mat­thi­as Däu­mer ist pro­mo­vier­ter Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler und wis­sen­schaft­li­cher Mit­ar­bei­ter am Insti­tut für Ger­ma­nis­tik an der Uni­ver­si­tät Wien. Sei­ne For­schungs­in­ter­es­sen gel­ten der mit­tel­hoch­deut­schen Lite­ra­tur, ihren Hel­den, Mythen und Jen­seits­rei­sen. Mit der Gegen­wart ver­bin­det ihn ein Fai­ble für Theo­rie und Fernsehserien.

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