Die Zeit­schrif­ten­re­ga­le am Kiosk, das Vor­abend­pro­gramm im Fern­se­hen oder Food­fes­ti­vals – sie alle zeu­gen von einem Kult ums Essen, der in den Wohl­stands­na­tio­nen Fuß gefasst hat. Dabei geht es nicht um Genuss allein. Loka­le, unter fai­ren Bedin­gun­gen pro­du­zier­te Lebens­mit­tel sind zur Gewis­sens­fra­ge gewor­den. Der Besuch im gut sor­tier­ten Super­markt folgt einer (grü­nen) Poli­tik mit dem Ein­kaufs­wa­gen. Neue Gebo­te und Ver­bo­te, die etwa den Fleisch­ver­zehr regu­lie­ren, erin­nern an ihre längst ver­ges­se­ne Pro­ve­ni­enz: die der Religion.

Der Kult ums Essen

War­um beschäf­ti­gen sich in den Indus­trie­na­tio­nen so vie­le Men­schen mit­un­ter obses­siv mit ihren Spei­sen – und dies, obwohl ihre Ernäh­rung im Gegen­satz zu einem immer noch hun­gern­den Teil der Erd­be­völ­ke­rung mehr als sicher­ge­stellt ist?

Häu­fig dia­gnos­ti­ziert, sel­ten ana­ly­siert: Der Kult ums Essen (Bild: Montage)

Die fünf­te Aus­ga­be der Ave­nue geht dem gegen­wär­ti­gen Kult ums Essen auf den Grund. Hier­für bit­tet Sie die Geis­tes- und Sozi­al­wiss­sen­schaf­ten zu Tisch, die seit mehr als 100 Jah­ren die Zube­rei­tung und den Ver­zehr von Nah­rungs­mit­teln erforschen.

Appe­ti­zer I: Vom Fres­sen zum Essen

1910 ver­öf­fent­licht Georg Sim­mel, einer der Grün­dungs­vä­ter der deutsch­spra­chi­gen Sozio­lo­gie, den Auf­satz Sozio­lo­gie der Mahl­zeit, der «die unge­heu­re sozia­li­sie­ren­de Kraft» des gemein­sa­men Essens und Trin­kens beschwört: Am Tisch ver­wan­delt sich selbst der Tod­feind in einen Gast­freund, der vom glei­chen Blut trinkt und vom glei­chen Fleisch isst. Die gemein­sa­me Mahl­zeit mar­kiert den Beginn von Ver­ge­mein­schaf­tung über­haupt: Zum einen pazi­fi­ziert sie das ego­is­ti­sche und pri­mi­ti­ve Fres­sen, zum ande­ren syn­chro­ni­siert sie unter­schied­li­che Men­schen in einer gemein­sa­men Tätigkeit.

«Die Gemein­sam­keit des Mah­les aber führt sogleich zeit­li­che Regel­mä­ßig­keit her­bei, denn nur zu vor­be­stimm­ter Stun­de kann ein Kreis sich zusam­men­fin­den – die ers­te Über­win­dung des Natu­ra­lis­mus des Essens.»

Georg Sim­mel

Gelingt es einer Gesell­schafts­schicht, den Sät­ti­gungs­druck des Hun­gers zu über­win­den, erlangt, so Sim­mel, die gemein­sa­me Mahl­zeit eine neue Funk­ti­on: Die Gemein­schaft wird zum Selbst­zweck und die gute Tisch­sit­te zu ihrer Eintrittskarte.

In sei­nem zwei­bän­di­gen Werk Der Pro­zess der Zivi­li­sa­ti­on (1939) ver­tieft Nor­bert Eli­as drei­ßig Jah­re spä­ter Sim­mels Skiz­ze. His­to­ri­scher Aus­gangs­punkt ist für Eli­as die Staa­ten­bil­dung am Ende des Mit­tel­al­ters. Das neue Gewalt­mo­no­pol führt rasch zu einer Ent­waff­nung des Kriegs­adels, der sich fort­an in einer höfi­schen Gesell­schaft zu zivi­li­sie­ren hat. Jede Form der kör­per­li­chen Aus­ein­an­der­set­zung gilt nun als Affront gegen den Staatskörper.

Die­ser Zivi­li­sa­ti­ons­pro­zess macht sich zuerst an der gemein­sa­men Mahl­zeit bemerk­bar: Da nichts mehr an Kör­per­lich­keit erin­nern darf, unter­bin­den Tisch­sit­ten als­bald das Fur­zen und Schnäu­zen zu Tisch. Auch der Gebrauch von Mes­ser und Gabel gehorcht schon bald einer fein zise­lier­ten Eti­ket­te, um die­sen Instru­men­ten jeden Anschein von kör­per­li­cher Bedro­hung zu neh­men. Und da selbst der ‹gesun­de Appe­tit› noch an ein kör­per­li­ches Bedürf­nis gemahnt, ist er mit­hil­fe von meh­re­ren Gän­gen und auf­wen­di­gen For­men zu zügeln.

Das ers­te Staats­din­ner Barack Oba­mas zu Ehren des Pre­mier­mi­nis­ters von Indi­en Man­mo­han Singh, 2009 (© Barack Oba­ma Pre­si­den­ti­al Library)

Doch nicht nur wie, son­dern auch was wir essen, ver­dankt sich der sozia­li­sie­ren­den Kraft gemein­sa­mer Mahl­zei­ten. Am ver­speis­ten Mate­ri­al lässt sich, dar­auf hat Pierre Bour­dieu in sei­nem Werk Die fei­nen Unter­schie­de (1979) hin­ge­wie­sen, nicht so sehr das Nah­rungs­mit­tel­an­ge­bot, son­dern viel­mehr der gesell­schaft­li­che Rang able­sen. Denn was wir mögen und was wir ver­schmä­hen, ist nicht das Resul­tat eines ange­bo­re­nen und unver­än­der­li­chen Geschmacks, son­dern Ergeb­nis einer schicht­spe­zi­fi­schen Sozia­li­sie­rung. Groß­flä­chi­ge Erhe­bun­gen zu Kar­rie­re­ver­läu­fen, Essens­ge­wohn­hei­ten und sozia­ler Her­kunft zeich­nen im Frank­reich der 1960er ein deut­li­ches Bild: Die unte­ren Schich­ten ver­spei­sen Funk­ti­on, die obe­ren Form. In Arbei­ter­fa­mi­li­en kom­men gro­ße Schüs­seln mit Fleisch und Teig­wa­ren auf den Tisch, in gebil­de­ten Krei­sen meh­re­re Gän­ge mit über­schau­ba­ren Portionen.

Sim­mel, Eli­as und Bour­dieu erin­nern dar­an, dass Mahl­zei­ten eben nicht nur der Sät­ti­gung die­nen. Was und wie wir spei­sen, ist abhän­gig von Aus­bil­dung, geo­gra­phi­scher Her­kunft oder Schich­ten­zu­ge­hö­rig­keit. Doch wie sich die­se Abhän­gig­kei­ten zwi­schen Nah­rung und Gesell­schaft, zwi­schen Spei­se und Iden­ti­tät heu­te arti­ku­lie­ren, ist alles ande­re als klar. Hier besteht For­schungs- und Aufklärungsbedarf.

Appe­ti­zer II: Von Natur zu Kultur

Prinz Bern­hard der Nie­der­lan­de über­reicht Clau­de Lévi-Strauss den Eras­mus­preis, 1973 (Quel­le: Natio­naal Archief, NL)

Spä­tes­tens seit den Arbei­ten von Clau­de Lévi Strauss zum Den­ken angeb­lich pri­mi­ti­ver Kul­tu­ren genießt das Kochen eine her­aus­ra­gen­de Bedeu­tung in der eth­no­lo­gi­schen For­schung. Für Lévi-Strauss ist Kochen die Kul­tur­tech­nik schlecht­hin, mit der eine Gemein­schaft eine Gren­ze zwi­schen Natur und Kul­tur zieht. Nicht allein die gemein­sa­me Mahl­zeit, son­dern viel­mehr die Ver­wand­lung von rohen bzw. unver­än­der­ten in gekoch­te bzw. ver­än­der­te Nah­rungs­mit­tel wir­ke kulturstiftend.

Mehr noch: Die Zube­rei­tungs­art ent­schei­det nach Lévi-Strauss dar­über, wie eine Gemein­schaft sich gegen­über ihres­glei­chen (Kul­tur) oder Frem­den (Natur) abgrenzt. In den unter­such­ten Mythen steht das Bra­ten der „Natur“ deut­lich näher, wes­halb die­se Nah­rungs­mit­tel­trans­for­ma­ti­on für die Bewir­tung von Gäs­ten zum Ein­satz kommt. Das Kochen mit Was­ser und Behäl­ter hin­ge­gen ist für die Ver­kös­ti­gung der eige­nen Gemein­schaft vor­ge­se­hen. Die­se Dif­fe­ren­zie­rung zieht sich bis in den Kan­ni­ba­lis­mus hin­ein: Der endo­ge­ne Kan­ni­ba­lis­mus kocht Ver­wand­te, der exo­ge­ne brät Feinde.

Kochen für Ver­wand­te, Gril­len für Freun­de? Ange­la Mer­kel und Geor­ge W. Bush ver­spei­sen ein gegrill­tes Wild­schwein, 2006 (Bild: Eric Draper)

Selbst wenn das struk­tu­ra­lis­ti­sche Den­ken von Clau­de Lévi-Strauss ange­sichts der gegen­wär­ti­gen Ver­meh­rung von Küchen­ge­rä­ten, Zube­rei­tungs­wei­sen und Nah­rungs­mit­teln not­wen­di­ger­wei­se an sei­ne Gren­zen stößt, bleibt doch eine wesent­li­che Ein­sicht erhal­ten: Kochen ist nicht nur eine grund­le­gen­de Kul­tur­tech­nik, son­dern zugleich eine Spra­che, mit der wir Nähe und Distanz, Zunei­gung und höf­li­che Ehr­erbie­tung, Fami­lia­ri­tät oder Gast­lich­keit zum Aus­druck bringen.

«So darf man hof­fen, in jedem beson­de­ren Fall zu ent­de­cken, dass die Küche einer Gesell­schaft eine Spra­che ist, in der sie unbe­wusst ihre Struk­tur zum Aus­druck bringt, es sei denn, sie ver­schleie­re, nicht min­der unbe­wusst, ihre Widersprüche.»

Clau­de Lévi-Strauss

Genau­so wie bei der gemein­sa­men Mahl­zeit sind auch beim Kochen kul­tu­rel­le und gesell­schaft­li­che Abhän­gig­kei­ten nicht mehr so leicht wie in den Mythen von Lévi-Strauss zu iden­ti­fi­zie­ren. Kommt hin­zu, dass in die­ser Kul­tur­tech­nik sich zuneh­mend auch Selbst­ver­hält­nis­se arti­ku­lie­ren: Man kocht für sich selbst so, als ob man sein eige­ner Gast wäre.

Kopf­re­zep­te

Auch die Ave­nue ist ein Maga­zin. Und als sol­ches will sie es sich nicht neh­men las­sen, ihren Lese­rin­nen und Lesern Rezep­te zu unter­brei­ten – zum Nach­ko­chen auch, zum Nach­den­ken beson­ders. Sie will so Abstand zu der zwar krea­ti­ven, zuwei­len aber obses­si­ven Beschäf­ti­gung mit dem Essen gewin­nen. Die Distan­zie­rung vom Essens­kult erfolgt nicht in genuss­feind­li­cher oder aske­ti­scher, wohl aber in zivi­li­sie­ren­der Absicht: Sie möch­te Tisch­ge­sell­schaf­ten die Frei­heit bie­ten, sich über mehr als nur die indi­vi­du­el­len Geschmacks­er­fah­rungs­bio­gra­phien unter­hal­ten zu dürfen.

Bon­ne lecture!

Lite­ra­tur

Bour­dieu, Pierre. 1982 [1979]. Die fei­nen Unter­schie­de. Kri­tik der gesell­schaft­li­chen Urteils­kraft. Frank­furt am Main.

Eli­as, Nor­bert. 1976 [1939]. Über den Pro­zess der Zivi­li­sa­ti­on. Sozio­ge­ne­ti­sche und psy­cho­ge­ne­ti­sche Unter­su­chun­gen. Frank­furt am Main.

Lévi-Strauss, Clau­de. 1976. Mytho­lo­gi­ca III. Der Ursprung der Tisch­sit­ten. Frank­furt am Main. Zitat: S. 532.

Sim­mel, Georg. 2009[1910]. „Sozio­lo­gie der Mahl­zeit.“ In: Sim­mel, Georg, Licht­blau, Klaus (Hg.): Sozio­lo­gi­sche Ästhe­tik. Wies­ba­den: S. 155–162. Zitat: S. 156.

Bild­nach­weis

Das Titel­bild zeigt Sophia Loren bei der Piz­za-Zube­rei­tung. Ca. 1965. Unbe­kann­te Photograph*in (Get­ty Images)

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Herausgeber*innen

Anmer­kung: Die Herausgeber*innen der Ave­nue lan­cier­ten zu Weih­nach­ten 2020 die Initia­ti­ve Salz + Kunst als Ant­wort auf die Ein­schrän­kung des künst­le­ri­schen Lebens wäh­rend der Coro­na-Pan­de­mie. Im Sin­ne von art on demand ver­mit­telt die Platt­form Kunst­stü­cke nahe­zu aller Kunst­spar­ten in den pri­va­ten Raum: ein Jodel im Vor­gar­ten, ein phi­lo­so­phi­sches Gespräch per Zoom, ein Gedicht per Whats­app, ein Vio­lin­kon­zert auf dem Balkon …

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