Die Natur erobert die Lebens­mit­tel zurück. In der letz­ten Deka­de hat sich der Markt für Bio-Lebens­mit­tel in Euro­pa knapp ver­drei­facht. In Ber­lin kau­fen 4 von 5 Men­schen Bio, zumin­dest gele­gent­lich. In der Schweiz geben sie dafür 262, in Deutsch­land immer­hin noch 106 Euros pro Jahr aus (Wil­ler und Ler­noud 2017).

Der Griff zum Bio-Label ver­dankt sich nicht zuletzt einer zuneh­men­den Sicht­bar­keit von Tech­nik in indus­tri­ell pro­du­zier­ten Lebens­mit­teln. Seit 1998 gilt in Deutsch­land die Kenn­zeich­nungs­pflicht für Zusatz­stof­fe. Sie hat bis­her unver­däch­ti­ge Lebens­mit­tel in toxi­sche E‑Pakete ver­wan­delt. Kurz dar­auf haben Wachs­tums­hor­mo­ne, gen­tech­nisch ver­än­der­te Pflan­zen und Kunst­dün­ger den Weg vom Acker ins Fern­se­hen geschafft und so die tech­ni­sche Sei­te der Land­wirt­schaft publik gemacht.

Heu­te gehört, so scheint’s, Tech­nik dank Bio der Ver­gan­gen­heit an. Die­se Erfolgs- und Rück­erobe­rungs­sto­ry der Natur beruht aller­dings auf einem Trick. Und der besteht in unse­rer Fähig­keit, Tech­nik zu ver­ken­nen.

Ver­ken­nung

Was heißt es, etwas zu ver­ken­nen? Pierre Bour­dieu (1976) beschreibt dar­un­ter, wie der öko­no­mi­sche Cha­rak­ter von Geschen­ken zuguns­ten ihres sym­bo­li­schen Werts zurück­tritt. Damit ein Geschenk als Zei­chen der Freund­schaft funk­tio­niert, darf sein öko­no­mi­scher Wert nicht expli­zit wer­den. Ein ver­ges­se­nes Preis­schild rui­niert die Sym­bo­lik, ein ver­ges­se­ner Akti­ons­kle­ber die Freundschaft.

Louis Althusser (1918-1990), u.a. Lehrer von Pierre Bourdieu, gebrauchte den Begriff der méconnaissance, um auf Verdrängungsmechanismen aufmerksam zu machen, die im Gegensatz zu Freud sich keinem individuellen Trauma, sondern einer kollektiven Ideologie verdanken
Lou­is Alt­hus­ser (1918–1990), u.a. Leh­rer von Pierre Bour­dieu, gebrauch­te den Begriff der mécon­nais­sance, um auf Ver­drän­gungs­me­cha­nis­men hin­zu­wei­sen, die wir zur Reduk­ti­on von Wider­sprüch­lich­kei­ten im All­tag nut­zen. Sie ver­dan­ken sich nicht wie bei Freud einem indi­vi­du­el­len Trau­ma, son­dern einer kol­lek­ti­ven Ideologie.

Ver­ken­nung fin­det, so die The­se die­ses Bei­tra­ges, auch und gera­de beim Kauf und Ver­zehr angeb­lich natür­li­cher Lebens­mit­tel statt. Denn deren Natür­lich­keit hat weni­ger mit Natur­nä­he, mehr mit einem kul­tu­rell ein­ge­üb­ten Blick zu tun, Tech­ni­sches zu über­se­hen und zu ver­ken­nen. Bio­pro­duk­te kön­nen nur dann Sym­bo­le für Natur und Nach­hal­tig­keit sein, wenn wir die Tech­nik zu ihrer Her­stel­lung und Ver­brei­tung aus­blen­den, d.h. verkennen.

Natur 2.0

Spä­tes­tens mit Anbruch des Anthro­po­zäns hat sich die Natur ver­flüch­tigt – zumin­dest jene alte Ver­si­on, die für all das steht, was nicht vom Men­schen gemacht ist. An ihre Stel­le ist Natur 2.0 getre­ten. Für den Kul­tur­phi­lo­so­phen Ger­not Böh­me (1992: 20) sind Bio-Lebens­mit­tel all­täg­li­che Bei­spie­le dafür, wie wir mit Wis­sen und Tech­nik das her­vor­brin­gen, was längst ver­schwun­den ist. Bio-Äpfel sei­en Zei­chen für den Ver­lust von „Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten in unse­rer Bezie­hung zur Natur“. Natur, so lässt sich ver­mu­ten, wird genau des­halb in Form von Bio­pro­duk­ten nach­ge­fragt, weil es sie nicht mehr gibt. Sie muss, mit ande­ren Wor­ten, auf jede erdenk­li­che Wei­se neu her­ge­stellt wer­den – nur nicht auf natürliche.

Kein Bio ohne Technik.

Ein ers­tes Indiz für den Natur­ver­lust ist die kom­pen­sie­ren­de Beto­nung der ‚natür­li­chen Natür­lich­keit von Natur­pro­duk­ten‘. Dar­auf hat der Sozio­lo­ge Niklas Luh­mann (1988) schon vor drei­ßig Jah­ren hin­ge­wie­sen, als er beob­ach­te­te, dass in „Läden heu­te natur­rei­ne Früch­te ange­bo­ten“ wer­den. Ein zwei­ter Hin­weis gibt Bio-Prä­fix. ‚Bio­lo­gisch‘ mag zwar für natur­na­he Anbau­me­tho­den ste­hen, doch das Wort ent­stammt einem wis­sen­schaft­lich-tech­ni­schen Kon­text, der die Natur zur Bio­lo­gie adelt. Drit­tes Indiz sind Theo­rie­vor­schlä­ge, wie die tech­nisch her­ge­stell­te Natur zu fas­sen ist. Die Phi­lo­so­phin Nico­le C. Karaf­yl­lis (2003) etwa ver­wen­det den Begriff Bio­fak­te – eine Ver­bin­dung von bios (griech.: Leben) und Arte­fakt –  zur Bezeich­nung von Pflan­zen und Lebe­we­sen, die nur dank Agrar- und Bio­tech­no­lo­gien exis­tie­ren kön­nen. Kein Bio ohne Technik.

Ein Bio-Apfel ist ein Bio­fakt par excel­lence. Sämt­li­che sei­ner Lebens­pha­sen sind auf Tech­nik ange­wie­sen – und dar­auf, dass wir sie ver­ken­nen. Alter­tüm­li­che Apfel-Sor­ten sind das Ergeb­nis kom­ple­xer Rück-Züch­tungs­tech­ni­ken inklu­si­ve kom­pli­zier­ter Paten­tie­rungs­streits. Eine Viel­zahl hoch­mo­der­ner Agrar­tech­ni­ken sorgt auf Apfel­plan­ta­gen für eine Öko­lo­gi­zi­tät, die nur dank neu­es­ter For­schungs­er­kennt­nis­se über das Zusam­men­spiel von Schäd­lin­gen und Nütz­lin­gen umzu­set­zen ist. Bevor der Bio-Apfel in den Super­markt gelangt, sor­gen Tem­pe­ra­tur­kon­trol­len, Bar­codes und viel IT für die nöti­ge Logis­tik. Am Ende des life cycles eines Bio-Apfels steht die Kund*in. Je höher deren Ein­kom­men und Bil­dung, des­to grö­ßer ihre Nei­gung, sich an kur­zen Trans­port­we­gen und CO2-Neu­tra­li­tät zu ori­en­tie­ren (Vogel­ge­sang 2016). Natür­lich sind Natur­pro­duk­te nicht auf­grund ihrer Natur, son­dern infol­ge tech­ni­scher Ver­fah­ren – ob sie nun auf das Pro­dukt, die Insze­nie­rung oder die Kon­su­men­tin abzielen.

Die Toma­te Sun­vi­va besitzt eine Open Source-Lizenz. Die ent­spre­chen­de Initia­ti­ve will Saat­gut wie­der zu einem Gemein­gut für alle machen (Bild: Gön­nin­ger Samen).

Zur Bio­fak­ti­zi­tät eines Bio-Apfels gehö­ren also Agrar‑, Bio- und Züch­tungs­tech­ni­ken genau­so wie Logis­tik und Mar­ke­ting. Gerahmt wird die­ses Ensem­ble von einer Rei­he von Selbst- und Sozi­al­tech­ni­ken, deren sich die Kon­su­men­tin bedient, um mit­hil­fe von Bio­fak­ten sich selbst zu einem wahl­wei­se fit­ten oder leis­tungs­fä­hi­gen, glück­li­chen oder schlan­ken Sub­jekt zu machen. Zu ihnen zäh­len Diä­ten und natür­li­che Ernäh­rungs­wei­sen, die trotz Bezeich­nun­gen wie low carb, paleo oder high pro­te­in über ihren tech­ni­schen Cha­rak­ter hin­weg­täu­schen. Dazu gehö­ren Food-Apps, die eine Ver­net­zung mit Gleich­ge­sinn­ten, Selbst­dar­stel­lung und ‑opti­mie­rung ermög­li­chen. Dazu gesel­len sich ver­meint­lich alte Koch­tech­ni­ken wie das Fer­men­tie­ren oder das Ein­ma­chen. Ihre sym­bo­li­sche Tra­di­tio­na­li­tät und Natur­nä­he hel­fen moder­nen foo­dies zu ver­ken­nen, dass längst indus­tria­li­sier­te Tech­ni­ken in der klei­nen Fabrik daheim noch­mals erfun­den werden.

Dop­pel­te Ambivalenz

Laut Klaus Eder treffen in der Moderne zwei Naturverständnisse konfliktreich aufeinander: Die griechische Tradition der Verwissenschaftlichung und Rationalisierung einerseits, die jüdische der Moralisierung andererseits.
Laut Klaus Eder tref­fen in der Moder­ne zwei Natur­ver­ständ­nis­se kon­flikt­reich auf­ein­an­der: Die grie­chi­sche Tra­di­ti­on der Ver­wis­sen­schaft­li­chung und Ratio­na­li­sie­rung einer­seits, die jüdi­sche der Mora­li­sie­rung andererseits.

Unse­re Fähig­keit, Tech­nik zu ver­ken­nen, ist selbst eine Kul­tur­tech­nik, die wir fort­wäh­rend anpas­sen und ver­fei­nern, um mit immer neu­en Ambi­va­len­zen von Natur und Tech­nik leben zu kön­nen. Bereits unse­re Hal­tung zur Natur ist von Wider­sprü­chen geprägt. In der Moder­ne haben sich, dar­auf hat Klaus Eder (1988) hin­ge­wie­sen, eine „theo­re­ti­sche Neu­gier­de“ an Natur und par­al­lel dazu eine „Lust an der Natur“ ent­wi­ckelt. Ers­te­re mache Natur zum Gegen­stand wis­sen­schaft­li­cher Erkennt­nis, letz­te­re zivi­li­sie­re, ästhe­ti­sie­re und mora­li­sie­re einen nicht-instru­men­tel­len Umgang mit ihr. Die­se Ambi­va­lenz fuße, so Eder, in all­täg­li­chen Prak­ti­ken – „vor allem im Essen“.

Spä­tes­tens seit der Roman­tik trifft eine zwei­deu­ti­ge Natur auf eine ambi­va­len­te Hal­tung zur Tech­nik. Dabei wird unser Ver­trau­en in die Tech­nik immer wie­der von schau­rig schö­nen Scha­dens­er­wä­gun­gen her­aus­ge­for­dert. Inzwi­schen sind wir in der (wider­sprüch­li­chen) Lage, uns über Lebens­mit­tel­skan­da­le, indus­tri­el­le Fleisch­pro­duk­ti­on und Methan­gas­aus­stoß zu echauf­fie­ren, wäh­rend wir blind dem appe­tit­li­chen Bio­fakt ver­trau­en, das blu­tig auf unse­rer Gabel steckt.

Was in den Gemenge­la­gen der Ambi­va­len­zen als natur­nah durch­geht, was als tech­nisch ent­frem­det gilt, dar­über ent­schei­det auch, was zu ver­ken­nen wir imstan­de sind.

Gera­de im kuli­na­ri­schen Bereich manö­vrie­ren wir uns durch all die­se Ambi­va­len­zen durch spe­zi­fi­sche Ver­ken­nungs­leis­tun­gen, mit denen wir Zwei­deu­tig­kei­ten und Wider­sprüch­lich­kei­ten ver­eindeu­ti­gen. Biokonsument*innen schla­gen sich in der Küche auf die Sei­te eines ästhe­ti­schen und mora­li­schen Natur­ver­ständ­nis­ses. Dabei blen­den sie den For­schungs­auf­wand aus, der für die Rück­züch­tung ihrer pro spe­cie rara-Toma­te nötig war. Sie ver­trau­en dem scho­nen­den Steam­er und ver­ab­scheu­en die Mikro­wel­le, die Pro­te­ine ‚unna­tür­lich‘ zer­setzt. Was in die­sen Gemenge­la­gen der Ambi­va­len­zen als natur­nah durch­geht, was als tech­nisch ent­frem­det gilt, dar­über ent­schei­det nicht nur, was wir zu aner­ken­nen, son­dern auch, was zu ver­ken­nen wir imstan­de sind.

Selbst wenn Ver­ken­nungs­tech­ni­ken uns in der all­täg­li­chen Bewäl­ti­gung von Ambi­va­len­zen zur Sei­te ste­hen, hilft der zeit­wei­se Blick hin­ter den Vor­hang. Auf der Hin­ter­büh­ne wird spä­tes­tens klar, dass Natur ohne Tech­nik nicht zu haben ist. Auch nicht auf unse­rem Tel­ler. Die­se Ein­sicht mag hel­fen, selbst in Fall von Bio Tech­nik wie­der sicht­bar und: debat­tier­bar zu machen.

Lite­ra­tur

Böh­me, Ger­not. 1992. Natür­lich Natur. Über Natur im Zeit­al­ter ihrer tech­ni­schen Repro­du­zier­bar­keit, Frank­furt am Main.

Bour­dieu, Pierre. 1976. Ent­wurf einer Theo­rie der Pra­xis auf der eth­no­lo­gi­schen Grund­la­ge der kaby­li­schen Gesell­schaft, Frank­furt am Main.

Eder, Klaus. 1988. Die Ver­ge­sell­schaf­tung der Natur. Stu­di­en zur sozia­len Evo­lu­ti­on der prak­ti­schen Ver­nunft, Frank­furt am Main.

Karaf­yl­lis, Nico­le C. (Hg.). 2003. Bio­fak­te. Ver­such über den Men­schen zwi­schen Arte­fakt und Lebe­we­sen, Pader­born.

Luh­mann, Niklas. 1988. Erkennt­nis als Kon­struk­ti­on, Bern. Online.

Vogel­ge­sang, Jens. 2016. Foods-Trends 2016. Ergeb­nis­se einer reprä­sen­ta­ti­ven Befra­gung in Ber­lin, Hohen­heim. Online.

Wil­ler, Hel­ga; Ler­noud, Julia. 2017. Orga­nic Far­ming and Mar­ket Deve­lo­p­ment in Euro­pe and the Euro­pean Uni­on. FiBL & IFOAM: Frick, Bonn. Gra­fik auf S. 228

Bild­nach­weis

Das Titel­bild zeigt Clint East­wood als Revol­ver­held Hogan im Wes­tern Ein Fres­sen für die Gei­er, 1970 (Get­ty Images).

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Lau­ra Trachte

Lau­ra Trach­te hat Sozio­lo­gie, Poli­tik­wis­sen­schaft und Gen­der Stu­dies in Mün­chen stu­diert. In ihrer Dok­tor­ar­beit ana­ly­siert sie neue Kon­fi­gu­ra­tio­nen von Natur und Tech­nik in der Ernährung.

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